Bei Elend im Schnee
(2.Schüssel Erbsensuppe)
22.01.2017
All die Tage war das Wetter schön. Sonnenschein pur und blauer Himmel. Da reifte die Idee, endlich wieder einmal hoch in
den Harz zu fahren, verschneite Bäume zu sehen, den tiefen Schnee zu fühlen und sich die grelle Wintersonne ins Gesicht
brennen zu lassen. Nun ist es Sonntag und über der Stadt liegt eine eisige Glocke aus Dunst. Undurchsichtig, ungemütlich,
hässlich. Überall an den Zweigen und Nadelgehölz hat die gefrorene Feuchtigkeit kleine Miniaturwelten hingezaubert: bizarr,
einzigartig und von wilder Schönheit. Der Himmel darüber aber ist grau(envoll). Das Telefon klingelt und aus Goslar kommt
die Anfrage, ob wir uns nicht oben im Schnee auf ein paar Stunden treffen möchten. In Goslar wäre Sonnenschein und das
Torfhaus läge ja fast auf halber Strecke für jedes Auto. Also verabreden wir uns für 11.00 Uhr am Torfhaus, um von dort in
die Wälder und den Schnee zu wandern. Ein Stück in Richtung Brocken und den Blick dorthin. Das hat mich motiviert.
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Es ist Sonntag und außerdem Rodel- und Skisaison. Welcher Wahnwitz uns reitet, mit der Schüttel aus der Dunstglocke über
der Stadt heraus zu fahren mit Kurs auf die Touristenhochburgen Braunlage und Torfhaus, ist beim Start noch nicht zu
bemerken. Als wir bei Heimburg die neue B6 überqueren, liegt der Dunst im Tal hinter und die Berge mit blauem Himmel
darüber vor uns. Nach einer halben Stunde durchfahren wir Elbingerode in Richtung Elend. Hier oben liegt das Weiß im
Überfluss und die Sonne strahlt über die herrliche Pracht. Über die kahlen Höhen, hinunter ins Tal, am kleinen Stausee
vorbei und durch Elend hindurch, wo uns der dichte Hochwald verschlingt. Vor uns Braunlage und dann, wie aus dem
Nichts, Stau ab dem Ortseingangsschild. Stau? Endlich dämmert’s!
Hier gibt es den Wurmberg mit seinen 971 Metern, die Seilbahn, die Ski- und Rodelpisten. Die Spitze runde vier Kilometer
Luftlinie vom Brocken weg, sowie im Ort jede Menge Hotels und Pensionen, um viele Touristen von dort in die Landschaft
und auf die Berge hetzen. Der kleine Ort ist voll von ihnen und außerdem jede Menge Schnee an den Straßenrändern. Die
Fahrt geht hier nur schrittweise sowie jeweils nur für eine Radumdrehung weiter und dauert eine gute Viertelstunde. Jetzt
ist es 11.00 Uhr. Hinter dem Kurort endlich wieder Bundesstraße. Ich gebe Gas. In gut zehn Minuten könnten wir am
Torfhaus sein, denke ich, und liege schon wieder total daneben. Plötzlich reihen sich links und rechts am Straßenrand die
parkenden Karossen, die einen Park- oder Rastplatz ankündigen. Wir fahren sehr langsam weiter, um keinen Seitenspiegel
zu touchieren. Dies ist die reine Touristenwanderung im Harz, aber in einer Größenordnung, wie ich sie mir selbst in
Alpträumen nicht hätte vorstellen können. Der blanke Wahnsinn! Alle wollen sie auf irgendeinen Berg, in jede Schneise und
jeden Hügel hinauf. Und wir Heinis kommen auf die blöde Idee, uns ausgerechnet hier, wo sich die Touristenströme treffen,
zu verabreden. Das Positive daran: Jetzt kann ich mitreden und jedem abraten, den gleichen Blödsinn zu veranstalten.
Am Torhaus angekommen sieht es aus, als würden hier die Stones gleich ein Konzert spielen wollen. Menschmassen wohin
man schaut, die Straße an beiden Seiten zugeparkt und aus zwei Richtungen drängt eine lange Blechschlange auf den
einzigen richtigen Parkplatz. „Oma hilf!“, würde jetzt Jürgen Kerth ausrufen und „Help!“ die Beatles. Ein Glück, dass die
Verständigung per Handy funktioniert und so kommen wir zu dem Entschluss, die Aktion „Treffen & Wandern“ abzubrechen
und jeder auf eigene Faust etwas zu unternehmen. Also Kehrtwendung und der blendenden Sonne entgegen. Im gleißend
hellen Sonnenlicht ist das Fahren eher ein Tasten. Man sieht kaum die Seitenspiegel und noch weniger die unvorsichtigen
Fußgänger, die plötzlich wie Schatten zwischen den parkenden Autos auf die Straße treten. Schnell runter von der Piste, auf
einem der engen Parkplätze. Geschobene Schneewände am Hang, Schneemehl unter den Rädern. Grob den Dreck vom
Frontglas entfernen und danach wieder das kleine Nest Braunlage durchqueren, bis uns der Wald wieder aufnimmt. Am
Straßenrand, gleich hinter dem ehemaligen Grenzstreifen, da steht eine Gulaschkanone – „Kukki’s Erbsensuppe“. Auch in
Drei Annen Hohne steht so ein Teil. Wir werfen symbolisch unseren Anker aus und legen fest, dies ist unser heutiges Ziel,
nachdem wir zwei Stunden durch den Harz gegurkt sind. Hinein in den Wald, ein wenig drängeln und parken. Uff, geschafft!
Es gibt Erbsensuppe mit Bockwurst oder Knacker. Lily ist das egal, Hauptsache Wurst. Wir teilen wie es sich unter Hunden
gehört: Ich die heißen, Lily die anderen Stücken. Die Erbsensuppe muss ich mir allein einlöffeln. Später auf der Piste werde
ich lautstark daran erinnert werden, doch davon weiß ich beim Löffeln noch nichts.
Die Schneise führt weit in den verschneiten Wald hinein. Zunächst über den Parkplatz, dann hinunter zur Talsohle und auf
der anderen Seite wieder nach oben, wo der Weg zwischen den Bäumen und dem blauen Himmel verschwindet. Dort oben
möchte ich stehen, die hoffentlich schöne Aussicht ins Land genießen. Doch erst einmal führt der Schneetrampelpfad durch
die Mühen der Ebenen, vorbei an der weißen Schönheit, die den Waldrand wie im Wintermärchen säumt. Manche Bäume
tragen schwer und die Äste biegen sich unter der Last. Ganz unten schlängelt sich der kleine Ochsenbach durch das
Unterholz. Nur an einigen Stellen blinkt er durch Löcher im Schnee oder Eis ans Tageslicht. Ich steige darüber, ohne etwas
von ihm zu sehen. Alles ist hier tief verschneit und von den Skispuren, die von oben kommen, festgefahren. Neben der Spur
steige ich Tritt um Tritt nach oben. Nur langsam, denn immer wieder schweift mein Blick über die Natur, um den Zauber
kleiner Details zu bestaunen. Es ist wie ein Rausch, der das Adrenalin unmerklich treibt, die Poren öffnet und die Lunge mit
Waldluft „aus dem Delikat“ vollpumpt. Lily hat es auf ihren vier kleinen Füßchen etwas leichter, muss sich aber oft kleine
Eisklumpen zwischen den Zehen entfernen lassen. Sie bleibt einfach stehen, hebt ihr Füßchen und sagt mit den Augen:
„Bitte entfernen, tut mir weh.“ Dann läuft sie weiter, verschwindet plötzlich in einer tiefen Spur im Wald, um gleich darauf
wieder aufzutauchen. Hier kann sie ohne Leine rennen.
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Je höher wir gelangen, so scheint mir, desto blauer wird der Himmel über uns. Manchmal leuchtet ein Kondensstreifen wie
ein Kreidestrich auf, ansonsten nur Blau über uns. Der Blick zurück zeigt uns die gegenüber liegenden, ebenfalls
verschneiten, Berghänge. Ganz unten blinken hell die Blechkarossen aus einem knappen Kilometer Entfernung zu uns. Wir
sind am Kammweg angelangt, der Braunlage mit Elend über eine wunderschöne Schneepiste verbindet. Ich komme mir vor
wie im Fantasialand, so beeindruckend und faszinierend schön ist der Blick über die breite Waldschneise auf der Berge
Höhen. In dem Augenblick fällt mir nur Staunen ein. Wenn ich jodeln könnte, wie Hubert von Goisern, würde es jetzt
überall auf der Höh’, und darüber hinaus, zu hören sein, doch statt einem Juchizer puste ich nur ein Lied von Erbsen, Suppe
und Bockwurst in die Luft. Die Abstände sind groß genug, um damit miemanden belästigen zu können. Ein kühles Windchen
bläst das kleine Echo bis zum Waldrand, wo es sich verliert. Dann ist wieder Ruhe, nur Kinderlachen klingt entfernt über die
Lichtung herüber.
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Der Winter hat die Landschaft verzaubert. Manche jungfräuliche Schneedecke glitzert in der Sonne, so als wäre sie mit
tausenden kleiner Schneekristallen bestickt und auf hunderten Eisklumpen, die an den Rand geschoben sind, wachsen
kleine bizarre Gebilde. Da stehe ich hier oben in der Weite und erfreue mich an Minimalstrukturen aus Eiskristallen. Ich
glaube, langsam werde ich als Mensch zwar nicht alt, aber weise genug, mich an außergewöhnlichen kleinen Dingen zu
erfreuen. Sein ganzes Leben lang sammelt man Jahre an, um im letzten Viertel desselben festzustellen, dass man jetzt erst
im Kopf und Herzen jung genug ist, um dieses Leben bewusst auszukosten, zu genießen und vielleicht wirklich was
Bleibendes damit anzufangen. Der Sinn des Lebens liegt also im Detail, um daraus in Kleinarbeit etwas Großes und
Vernünftiges zu schaffen. Vielleicht hätten sie ihren Donald „Duck“ Trump zunächst in den Rocky Mountains Demut
beibringen sollen, denke ich, denn im Harz möchte ich ihm nicht begegnen. America him, Germany us!
Über dem Harz schwebt ein Heißluftballon und darüber zieht ein Jumbo seinen fetten Strich ins Blau. Das Sonnenlicht
macht aus dem Schnee einen glitzernden Untergrund und die Bäume zeichnen ihre dunklen Konturen darauf. Manchmal hat
ein Tier seine Spur darin hinterlassen und ich hätte gerade Lust, meine hinein zu stampfen. Rücken und Hüfte hindern mich
daran und außerdem sollten wir jetzt wieder umkehren. Runter ist es nämlich schwieriger, wie ich inzwischen schmerzhaft
erfahren musste. Auch Lily scheint glücklich zu sein, dass es wieder in die andere Richtung geht. Beim Blick den langen
Hang hinunter denke ich daran, dass ich als junger Knirps einst einen riesigen Auslaufhang von einer Sprungschanze auf
Brettern runter gedüst bin. Reichlich fünfzig Jahre später möchte ich nur noch da unten sicher ankommen. So viel Schnee
liegt auf den Bergen, von Braunlage bis Elend, und ich habe mich nicht auf den Allerwertesten oder da hinein gesetzt! Im
Stillen hoffe ich, der Winter möge noch etwas Schnee nachlegen. Dann kann das nächste Abenteuer starten. Torfhaus ist
allerdings sonntags gestrichen, wegen Touristenallergie.
Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.